One Day / Reckoning Text von
Julia Engelmann
geschrieben am Mittwoch, 22. Januar 2014
Medien-Hype, Stimmungsumschwung und Poetry Slam-Missverständnisse.
Mitte letzter Woche ist das Video von Julia Engelmann bei Youtube durch die Decke gegangen, der Wirbel hält bis heute an – der wohl größte Hype um ein Poetry Slam Thema aller Zeiten.
Nachdem die erste Welle der Berichterstattung fast durchweg positiv war – der STERN titelte gar „Dieses Video könnte ihr Leben verändern“ – kippte die Stimmung in der zweiten Woche des Hypes zunehmend ins negative. Verschiedene Video-Parodien, die etwa seit Sonntag die Runde machten, waren das erste Anzeichen, aber noch vergleichsweise harmlos. Die Süddeutsche Zeitung unterstellte Julia Engelmann dann Anfang der Woche unter anderem, der Text sei nicht spontan, sondern einstudiert und die Wirkung vorher exakt kalkuliert und dadurch nicht authentisch. Eine ziemliche kuriose Aussage, die von wenig Fachkenntnis zeugt, denn welche Poetry Slam Performance auf höherem Niveau ist nicht einstudiert, welche Wirkung eines Slam-Textes ist nicht irgendwie auch kalkuliert? Von einigen sehr wenigen Freestyles einmal abgesehen. Die ZEIT griff das Thema gestern mit als letztes größeres Medium auf – ganze fünf Tage, nachdem der STERN zum ersten Mal berichtet hatte – und zwar mit einer zynisch-altväterlichen Textanalyse, die den Slamtext allen Ernstes in die Nähe von Baumarktkettenkampagnen und Handywerbespots rückt.
Woher dieser Stimmungsumschwung? Naheliegend ist natürlich die Vermutung, dass mit zunehmender Entwicklung des Hypes irgendwann auch die Erwartungen immer größer wurden. War das Video Anfangs noch eine echte Entdeckung, stellte sich mancher Zuschauer und Redakteur vermutlich ab einem bestimmten Zeitpunkt die Frage, ob der Text wirklich so gut sei, wie sein unglaublicher Erfolg – eine unfaire Relation, denn was kann ein Text für seinen Erfolg?
Vielleicht ist es aber auch einfach der natürliche Mechanismus eines Medienhypes, dass sich ab einem bestimmten Aufmerksamkeitslevel darum gerissen wird, wer das Thema als erstes entzaubert – was für ein Medium dann umso relevanter sein dürfte, wenn es die erste Welle schlicht verpasst hat. Ein schöner Leserkommentar zum Verriss der ZEIT lautete: „Wenn so viele Leute etwas gut finden, dann muss man einen Kontrapunkt setzen. Als Journalist sowieso. Das ist der Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet, daher bietet sich ein Verriss an. Wobei: Zeitpunkt beinahe verpasst, denn das hat gestern schon der Göttler von der Süddeutschen versucht (und ist ebenso gescheitert).“ (TorstenSc)
Möglicherweise verwechselt man in manchen Redaktionen auch immer noch gerne Bühnenliteratur mit Printliteratur. Wer sich auch nur ansatzweise mit Slam Poetry beschäftigt hat, weiß: Anders als ein klassisches Gedicht MUSS ein Poetry Slam Beitrag zugänglich sein. Nicht unbedingt, weil das Publikum weniger intelligent ist, es hat immerhin recht häufig akademischen Hintergrund. Sondern weil sich ein Bühnentext auf Anhieb erschließen muss, man kann eben nicht einfach nochmal eine Zeile nachlesen. Und natürlich ist Poetry Slam Popkultur, nicht Hochkultur. Aber in Ermangelung eines Experten für Slam Poetry wird offensichtlich häufig der Printliteratur-Fachmann aus dem Feuilleton auf den Beitrag losgelassen. Das kann dem Text von Julia in etwa so wenig gerecht werden, wie die Kritik eines Experten für Klassik-Konzerte zu einem Wankelmut-DJ-Set.
Für Julia Engelmann und für die Poetry Slam Szene bleibt zu hoffen, dass sie unbeschadet aus dem Hype wieder rauskommen. Und vielleicht kommt ja ganz zuguterletzt noch eine Phase der Gegenbewegung zur Kritik: „Jetzt aber Schluss mit der Pöbelei gegen Julia Engelmann!“ lautete z.B. der letzte Debattenbeitrag vom Hamburger Abendblatt zu dem Thema. Dem ist als Schlusswort nichts hinzuzufügen.